Der Schlosser - Glossen für ef-liberal - 2002

Die nachfolgenden Glossen erschienen 2002 in der Zeitschrift „ef-liberal“, die vom FDP-Kreisverband Erfurt herausgegeben und von Dr. Bernd Seydel redaktionell geleitet wurde.


 

Schlosser? Wirklich Schlosser?

Stellen wir uns doch einmal vor: Die Tür der Geschäftsstelle des F.D.P.-Kreisverbands Erfurt geht auf. Es steht darin ein Mensch mit Blaumann. Er schaut etwas unsicher. Was denken Sie?

  1. Warum kommt der unangemeldet?
  2. Was will der, ich habe doch gar keinen Handwerker bestellt?
  3. Ist etwas kaputt? Das hätte mir der Hausmeister aber auch sagen können.

Welche Antwort ist richtig? Keine! Der Mann will in die F.D.P. eintreten. Er ist gekommen um zu sagen: Hallo, hier bin ich. Ich bin Schlosser. Ich finde das so in Ordnung, wie ihr denkt. Der junge Arens hat gesagt, ich kann mal vorbeikommen. Was kann ich denn jetzt tun?

Nachdem sich ihre eigene Unsicherheit in ein verständnisvolles Lächeln verwandelt hat, drücken sie ihm das Wiesbadener Programm in die Hände. Das solle er sich durchlesen.

Wissen sie, was der Mann ihnen daraufhin sagt: Ich bin nicht zum Lesen gekommen, ich will was arbeiten. Ich will was Liberales arbeiten. Mit Eigeninitiative und so. Das Wort Eigeninitiative sagt der junge Arens doch immer, oder?

Ihr verständnisvolles Lächeln verwandelt sich in mitleidige Ratlosigkeit. Sie haben absolut keinen Plan, was man außer lesen noch tun könnte. Entschlossen fragen sie nach: Vielleicht möchten sie sich politisch engagieren? Es gibt in Thüringen viel zu tun!

Der Schlosser strahlt sofort und zieht den Schraubendreher aus der Tasche. Wo? fragt er entschieden und schaut bereits nach dem Sicherungskasten. In wenigen Minuten hat er die Schreibtischlampe wieder zum Leuchten gebracht, das wackelige Brett an der Wand angeschraubt und die Türangeln geölt. Die beiden großen Kisten sind ausgeräumt, der Schrank zur Seite gerückt, jetzt kann man auch das Fenster wieder öffnen.

Nach zwei Stunden geht der Schlosser, glücklich pfeifend. Die Arbeit, für die sie eine Woche vorgesehen hatten, ist erledigt. Erschöpft sinken sie in den Stuhl, der bis vor kurzem noch mit Altakten belegt war.
Sind so die neuen Mitglieder? Ist das der Rückenwind, der vielbeschworene? Das kann ja heiter werden.

Plötzlich versteinert ihr Gesicht. Als der Schlosser ging, hatte er noch etwas gesagt. So ungefähr: Das war aber nett bei ihnen. Ich komme morgen wieder. Dann können wir ja wieder politisch aktiv werden.

 

Der Schlosser im Arbeitsamt

„Guten Tag, ich suche Arbeit.“

„Dann müssen sie draußen warten.“

Der Schlosser geht aus dem Zimmer. Auf dem langen Flur warten andere Menschen. Komisch, denkt der Schlosser, die sehen gar nicht so aus, als ob sie suchen würden. „Sagen sie mal“, spricht er einen an, „suchen sie auch Arbeit?“

„Idiot.“

Der Schlosser hat den Eindruck, daß die Antwort etwas ungenau ist. Wahrscheinlich, denkt er, habe ich ihn beim Suchen gestört.

Wie sucht man eigentlich Arbeit? Der Schlosser schaut die Wartenden an. Sie sehen auf eine entschlossen unbestimmte Weise beschäftigt aus. So, denkt er sich, sucht man also.

Woran, denkt er weiter, erkennen diese Menschen, daß sie fündig geworden sind? Sicherlich klebt an dem, was eine Arbeit ist, so etwas wie ein Schild. Auf dem steht: „Das ist Arbeit.“ Das Schild muß ziemlich klein sein, denn alle Wartenden schauen angestrengt.

Erleichterung: Jetzt hat’s der Schlosser verstanden. Sofort macht er sich an die Arbeit, reißt die Bürotür auf, hechtet zur nächstliegenden Zimmerecke und beginnt seine Suche. Jeder Quadratzentimeter muß auf Schilder überprüft werden.

Die starke Hand packt ihn am Kragen, zerrt ihn hoch. Ein rotes Gesicht schreit: „Was soll denn das? Irgendwas verloren?“

Das ist das erlösende Stichwort. Der Schlosser schaut glücklich: Arbeit kann man nur finden, wenn jemand sie vorher verloren hat – oder wenn sie irgendwo versteckt wurde, damit sie niemand findet.

„Ja“, antwortet der Schlosser. „Wie schon gesagt, ich suche Arbeit. Aber ich wußte bis eben nicht, woran ich Arbeit erkenne. Nun aber weiß ich, daß ich den suchen muß, der die Arbeit verloren hat. Wenn ich ihn gefunden habe, frage ich ihn, wie die Arbeit aussah – und dann können wir sie suchen. Wir suchen gemeinsam, treffen andere Sucher und andere Arbeitsverlierer – und wenn wir etwas gefunden haben, geben wir die Arbeit dem zurück, der sie verloren hat.“ Erkenntnisstolz schaut der Schlosser in die Runde.

Das rote Gesicht glotzt starr. „Ich muß sie ersuchen, sofort das Haus zu verlassen“, haucht es streng.

Mit der Ruhe des Wissenden strebt der Schlosser davon. Wir sollten alle Arbeitssucher werden, denkt er sich. Wenn alle mitmachen, werden wir sie finden. Keine einzige Arbeit bleibt unentdeckt. Nur die Sache mit den viel zu kleinen Schildchen, die müssen wir noch verbessern.

 

Der Schlosser fordert

Jetzt würde es ihm reichen, sagte der Schlosser. Alles hier gefalle ihm nicht mehr. Deshalb werde er sich auch nichts mehr gefallen lassen. Keine Gefälligkeiten. „Wir sitzen in der Falle. In der Gefälligkeitsfalle!“ schrie der Schlosser.

Der Frühpubertierende im Wartehäuschen der Straßenbahn liftete geruhsam eine Augenbraue: „Probleme, Mann?“ Und nach drei Augenblicken: „Zigarette?“ Asche fiel zu Boden. Sein Schuh trat sie zu Staub.

„Raucher können nicht intelligent sein, denn sonst würden sie nicht rauchen.“ Der Schlosser sagte diesen Satz mit spitzem Mund. Sein Blick hatte die Überlegenheit eines Oberlehrers mit Hauptfach Latein
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„Hat dich deine Alte nicht rangelassen, daß du so ‘nen Sülz abläßt?“ Der Satz saß. Die Wirkung war sorgfältig erprobt. Vorgebeugt visierte er über die Zigarettenglut den Schlosser an. Wartete, dann ganz unbeteiligt: „Kraß.“ Er stand auf, nickt leicht einen Halbgruß und trollte sich davon.

Das hatte unser Schlosser nicht gewollt. „Ich habe ihn wohl überfordert,“ murmelte er. So dürfe man nicht mit der Jugend umgehen. „Es ist kein Wunder, wenn die Jugend uns Alten stehen läßt.“ Nie mehr überfordern! Das nahm er sich fest vor.

Fortan forderte der Schlosser nur noch. Nie überforderte er. Betrat er den Konsum, fiel ihm sogleich eine kleine Forderung ein: „Die Preise müssen fallen“, sagte er schlicht. Die Forderung am Stammtisch war schon entschlossener: „Es muß wieder Gerechtigkeit geben.“ Als er vor einem Menschen stand, den er einen „spitzen Politiker“ nannte, forderte er alles: „Der Staat muß dem Menschen dienen. Wir dürfen uns das nicht mehr gefallen lassen.“

In diesem Augenblick erinnerte er sich wieder an den Pubertätsraucher. „Gut“, sagte er zu sich, „daß ich ihn getroffen habe. Seitdem ich fordere, statt zu überfordern, kann ich mitreden. Fordern ist kraß.“

Eine Woche später gründete er den Forderverein. Jedes neue Mitglied muß bei seinem Eintritt geloben, statt mit „Guten Tag“ nur noch mit „Ich fordere“ zu grüßen.

Als nächstes will sich der Schlosser einen Forderlader kaufen.

 

Der Schlosser macht Ernst

Als wenn’s ein Spaß wäre, entschied sich der Schlosser bei der nächsten Autofahrt, die rotumkreisten Verkehrsschilder mit der Kilometerangabe nicht mehr als Mindestgeschwindigkeit zu interpretieren. Das hätte er nicht tun sollen, warf ihm später seine Frau vor, die sonst für humorvoll gehalten wurde: „Jetzt bist du schuld, daß wir keine Freunde mehr haben!“

Der Spaß begann. Noch in der Dreißigerzone zeigten dem Schlosser zwei Kleinwagenfahrer einen gestreckten Finger. Auf dem Stadtring erwies ihm ein schneidiger Golffahrer – tiefergelegt wie auch sein Spielzeug – trotz intensivsten Stimmeinsatzes und Armfuchteln insofern Respekt, als er nicht das Stiefelmesser zog, um des Schlossers Autoreifen gezielt zu entlüften.

In der enggestellten Autobahnbaustelle klopfte ihm ein LKW belehrend an die Stoßstange, als wenn er sagen wolle, man müsse beim 60-Schild nicht wie ein Sechzigjähriger fahren.

Bei rotumrandeten Einhundertzwanzig überholte ihn eine Fahrschule genervt.

Der Schlosser stieg aufs Fahrrad um. Als ihn eine rote Kreuzungsampel zum Anhalten einlud – der Schlosser schlug niemals nette Einladungen aus –, entfernten nachfolgende Pedalritter mit entschlossenen Kampfhandlungen den Wegversperrenden. Der Schlosser wurde Fußgänger.

Er grüßte fortan die roten Ampelmännchen (Ost wie West) stehend, die drängelnde Menge tapfer ignorierend, und floh die grünen. Vor Grün floh der Schlosser sowieso und eigentlich auch vor Rot. Der lynchlüsternen Menge entging er bei gelb.

Taxi zu fahren schien ihm der pfiffige Ausweg aus seiner verkehrstechnischen Korrektheit. Allerdings mieden seine Freunde ihn nun, weil nur Möchtegerngroß-Schlosser Taxi fahren. Sagten sie jedenfalls und wurden nicht mal rot dabei.

„Ich sollte vielleicht“, meinte der Schlosser zu seiner Frau, „zur Vermeidung von Unwillen lieber auf einem Hochseil Einrad fahren, denn dort ist die Verkehrsdichte geringer.“

„Aber deine Freunde fahren doch auch kein Einrad“, schrie ihm die Frau an den Kopf, als unser Schlosser im Branchenbuch nach einem Artistenladen suchte.

 

Die Wunden des Schlossers und seine wundersame Rettung

Der Schlosser leckt die Wahlwunden. Wie hoffnungsbereit war er gewesen, wie leuchteten ihm die 18 Prozent. Er war sogar zur Wahl gegangen. Schade eigentlich, dadurch hat er nun Anteil an der Niederlage: Seine Stimme war zu gering gewesen. Er hatte den Sieg nicht sichern können. Er ist schwach, viel zu schwach für dieses Leben.
Schon hat er den Strick in der Hand und sucht den Haken. Aber nicht einmal dem will er vertrauen. Darum braucht der Schlosser Hilfe. Unser Schlosser ist nämlich ein Sozialfall. Mit dem Mut des Verzweifelten schreitet er zu seiner letzten Tat. Rettung soll sie ihm schenken. Er liest den Koalitionsvertrag:

„Gerechtigkeit. Nur Starke können sich einen schwachen Staat leisten. Wir stehen auf der Seite der Menschen, die auf die Solidarität der Gemeinschaft angewiesen sind.“ Das schreiben SPD und Grüne im Vorwort.

Der Schlosser reibt sich erschrocken die Augen. „Das ist ja Philosophie“, ruft er laut. „Nein, das ist mehr, das ist unverständlich!“
Zurückgekehrt ist seine Lebenslust. Dieser Koalitionssatz bedarf der Aufklärung. Er fragt: Was ist ein schwacher Staat? Wer sind die Starken? Sind das jene „wir“, die den Koalitionsvertrag geschrieben haben? Wenn ja, gehören sie nicht zum Staat. Folglich gehört der Koalitionsvertrag, der diesen Satz enthält, auch nicht zum Staat. Mit welcher Berechtigung wird er dann geschlossen? Wenn er jedoch zum Staat gehört, ist er schwach. Dann brauchen wir ihn nicht. Komisch, oder?

Der Schlosser bleibt hartnäckig. Er fragt: Wer ist die Gemeinschaft, die Solidarität spendet? Ist sie Teil des Staats? Wenn ja, ist die Gemeinschaft dann schwach? Dann braucht sie selbst die Solidarität, die sie eigentlich spenden wollte. Klar, oder?

Aber diesen Satz versteht der Schlosser noch nicht: „Wir stehen auf der Seite der Menschen …“ Der Schlosser weiß: Wer an meiner Seite steht, ist Kumpel. Wer auf meiner Seite steht, ist ein Bösewicht, denn er kann dort nur stehen, wenn ich am Boden liege.

„Ich werde das noch klären“, ermutigt sich der Schlosser.

Niemals zuvor war ihm bewußt gewesen, wie geheimnisvoll sich Koalitionsverträge lesen. „Ich werde mich nie mehr langweilen müssen, solange ich daran arbeiten darf, diesen Text zu verstehen.“ Glücksgefühl erhebt ihn. Er ist stark, sehr stark. Er hat seine Lebensaufgabe gefunden.

Kleiner Nachtrag: Gestern sagte der Kapitän zum Schlosser: „Der Staat, das sind die paar Blöden, die noch arbeiten.“ Da hatte der Schlosser leicht den Kopf angehoben und gesagt: „Ich weiß. Ich denke nämlich gerade um die Ecke.“