Lernen mit älteren Menschen – oder wann ist man alt? - August 2007

Lernen mit älteren Menschen – oder wann ist man alt?



„Ich kann mich nicht mehr ändern, ich bin doch schon achtunddreißig.“ Diesen Satz sagte mir wörtlich ein Seminarteilnehmer. Natürlich verband er damit die Hoffnung, ich würde ihn in den drei Tagen Konfliktseminar nicht weiter fordern; die Hoffnung erwies sich schnell als illu-sionär.
Warum macht das Sich-ändern so große Angst? Zwei skizzenhafte Begründungen will ich dazu anbieten:

  1. Lernen und damit Verstehen ist Zusammenhangserzeugung durch Umwandlung beste-hender Zusammenhänge
  2. Die Art und Weise des Lernens verwandelt sich im Laufe des Lebens



Lernen in Zusammenhängen

Die informationstechnisch bedingte Idee, lernen sei so etwas wie ein Speichervorgang auf der Computerfestplatte, verstellt gründlich den Blick auf das wirkliche Lernen. Es ist eben nicht so, daß wir in unserem Gehirn freie Speicherplätze hätten, die nur darauf warten, durch einen wie auch immer gearteten Lernvorgang befüllt zu werden, um dann auf Nachfrage die dort abgelegte Information wieder herauszugeben.
Die eigene Empfindung gibt ein ganz anderes Bild: Sowohl in der Einzelbiographie wie auch kulturgeschichtlich können wir feststellen, daß Menschen stets die Überzeugung in sich tragen, „alles“ zu wissen: über sich, die Welt, die anderen. Dieses Wissen schließt dabei durch-aus einen Bereich ein, über den man noch nichts weiß. Der allerdings wird in seinem Charakter eindeutig durch das bereits vorhandene Wissen bestimmt. Als Bild: Wenn ich die Idee eines Kreises habe, dann kann ich ihn teilen und die eine Hälfte mit dem gefüllt mir vorstellen, was ich weiß. Da ich bereits eine Ganzheitsvorstellung vom Kreis habe, „weiߓ ich, was ich bezüglich seiner anderen Hälfte noch nicht weiß. Daß aber ganz andere Grundideen (Rechteck, Kugel, vieldimensionale Gebilde usw.) existieren könnten, bleibt dabei unerkannt. Oder ein historisches Beispiel: Die kausallogisch arbeitende Naturwissenschaft lebt seit Jahrhunderten von der Idee, daß es nur noch eines kleinen Schrittes bedürfe, um die Weltformel zu bestimmen, also der Natur ihr innerstes letztes Geheimnis zu entreißen. Sie bemerkt nicht, daß ihre Fragestellung selbst ein endgültiges Ergebnis verhindert. Dieses „alles wissen“ steht dem Lernvorgang grundsätzlich entgegen.

Schauen wir nochmals auf den Einzelmenschen: Er erlebt sich im ständigen Bemühen, alle wahrgenommenen Einzelfakten so zu ordnen, daß sie ihm in einem Verbund, in einem Zusammenhang erscheinen. Oder genauer: Erst wenn dieses Einbinden möglich ist, wird etwas als ein „Fakt“ überhaupt erlebt und wahrgenommen. Dieser geradezu antichronologische Prozeß läuft im Alltag völlig unbewußt ab. Wenn aus irgendeinem Grund (z.B. Krankheit, Streß) die Zusammenhangsbildung unterbleibt, entsteht Unsicherheit, Irritation, Angst und schließlich völlige Panik und Zusammenbruch.

Lernen läuft in einem ersten Schritt so ab, daß in bereits bestehende Zusammenhänge neue Fakten eingebaut werden – meist so lange, bis die Zahl der Widersprüche und Ungereimthei-ten nicht mehr ertragen wird. Dann hat der Lernende zwei grundsätzliche Möglichkeiten: Er hält den Lehrer für doof, weil der nicht richtig erklären kann. Oder er baut sich in sich selbst ein neues Zusammenhangsgerüst, in das die zu lernenden Fakten besser passen. Dieser Prozeß kann sich iterativ durchaus mehrmals wiederholen.

Lernen und Verstehen ist also in seinem Grundcharakter Zusammenhangsumbau.

Wer das versteht, versteht auch das Problem des Erwachsenenlernens: Jeder Erwachsene hat sich mehr oder weniger mühsam im Laufe seines Lebens Zusammenhänge geschaffen, die es ihm ermöglichen, in seiner Lebenswelt zurecht zu kommen, dort zu bestehen und Auf-gaben zu erledigen. Wenn nun ein Seminarleiter daherkommt und vielleicht noch offen ver-langt, diesen so leidvoll erzeugten Verstehenszusammenhang zu ändern, dann … dann kann man diesen nur ablehnen. Jedenfalls erst einmal.



Lernen im Lebenslauf

Dieser grundsätzliche Vorgang des Verstehens hat eine zweite Dimension: die der Zeit.

Kleine Kinder bis etwa zum Zahnwechsel (um das siebente Lebensjahr) lernen durch Nach-machen. Bis etwa zur Pubertät lernen Kinder, indem sie einem Vorbild nachstreben. Das kann beispielsweise der Lehrer sein, eine historische Figur oder ein Idol. Mit der Pubertät wacht in ganz neuer Weise der Wille auf, wird frei und selbstbezogen: Jetzt lernen die jungen Menschen, weil sie spüren, daß sie die Welt verändern können – oder sie lernen gar nicht, weil „Null Bock“ ihr Dasein bestimmt.
Lernen ist nicht nur in diesen ersten zwei Jahrzehnten unterschiedlich. Jeder Altersabschnitt hat seine Lernart. Mit dem Älterwerden fügen sich zu den Verwandlungen in der Biographie noch Ideen hinzu über die Art und Weise, wie die Welt funktioniert. Das bestimmt den Cha-rakter des Lernens nachhaltig. Ein paar etwas holzschnittartig gehaltene Beispiele:

  • Wer tief in der christlichen Idee lebt, erkennt sich in der Nachfolge der Erbsünde und in Erwartung der Erlösung im Jüngsten Gericht. Lernen wäre dann Sündenvermeidung, Sammeln guter Taten, also die Vorbereitung auf das Zukünftige. Wissen und Erkenntnis spielen nur eine geringe Rolle.
  • Ähnlich ist es im Islam, dem bereits endgültige Bewertungen von Gut und Schlecht eigen sind. Lernen wäre dann, alles in dieser Welt an diesem bereits nicht mehr zu befragen-den Maßstab zu bemessen, zu bewerten und sein eigenes Verhalten danach auszurich-ten. Islamische Forschung kann es eigentlich nicht geben, weil der Prophet bereits über alles Aussagen gemacht hat. Forschung wäre dann Aussageninterpretation, also Auslegung.
  • Die naturwissenschaftliche Idee der kausalen Verknüpfung aller Einzelheiten setzt auf das Entdecken dieser Verbindungen zwischen den Einzelheiten über das Prinzip Ursa-che und Wirkung. Lernen bedeutet, vorher Erforschtes zur Kenntnis zu nehmen, zu be-halten und an geeigneten Stellen zu wiederholen. Die Forschung geht dem Lernen immer voraus – unbeachtet dessen, ob und wie Forscher selbst lernen.
  • Mit der Idee der darwinistischen Evolutionstheorie ausgerüstet, erlebt sich der Mensch in einer stetigen Höherentwicklung. Lernen bedeutet dann eigentlich, aktiv an der Evolution teilzuhaben, was immer das auch sei. Da dem Evolutionsgedanken aber das Thelos fehlt, also das Gesamtziel oder auch das Sinnhafte des Daseins, ist Lernen wesentlich definiert über das „mehr“: viel lernen, mehr lernen, weiter lernen, egal welche Inhalte, auf jeden Fall lernen.

Alle Weltanschauungen lassen sich auf ihre immanente Lernstruktur hin befragen.



Folgen für Seminarleiter

Wer Seminare besonders mit älteren Menschen durchführt, wird die Wechselwirkung dieser drei Faktoren immer wieder spüren:

  • Lernen ist Zusammenhangserzeugung (-erfindung)
    Das ist ein ausgesprochen kreativer Prozeß
  • Lernen ändert sich in den verschiedenen Lebensphasen
    Das bleibt meist unbewußt
  • Die Art des Lernen definiert sich über die Weltanschauung
    Das ist ein dogmatischer, ziemlich erstarrter Vorgang

Spannend wird das alles, weil man als Seminarleiter genauso wie die Teilnehmer in diesen durchaus widersprüchlichen Prozessen steht. Unsere Chance ist es, darüber Selbstwahr-nehmung zu entwickeln. Wie als Vorbild (siehe zweites Lebensjahrsiebt) können wir dann vielleicht die Teilnehmer ermutigen, allzu harte Verkrustungen im eigenen Verhalten wenigs-tens probeweise zu erweitern (aufzuweichen), um daran neuen Handlungsspielraum zu ent-wickeln

Für die Lernforschung würden diese Überlegungen bedeuten:

  • Lernen in den verschiedenen Lebensphasen (welche?) genauer zu beschreiben und zu charakterisieren – und
  • wesentliche Weltanschauungen auf ihre meist verborgenen Lernstrukturen hin zu erforschen.

Kommen wir auf unsere Ausgangsfrage zurück: Wann ist man zu alt zum Lernen? Mit acht-unddreißig? Mit fünfzig? Mit hundert? Nein, die Frage ist offenbar falsch gestellt: In jedem Lebensabschnitt lernt man anders, entdeckt die Welt neu, lernt sich neu kennen – jedenfalls von der Möglichkeit her. Daß viele Menschen diese Option nicht nutzen, dürfen wir vielleicht beklagen, sollten uns aber darüber nicht wirklich erregen. Die Sehnsucht nach Sicherheit hat durchaus ihre Berechtigung – jedenfalls so lange, wie der Zusammenhang hält, in dem ich mich wohnlich eingerichtet habe.

Doch es gilt für jeden Menschen: Er kann alle äußeren Veränderungen ablehnen und sich ganz dem Verharren widmen. Das eigene Älterwerden wird er nicht aufhalten können. Die Idee des Jungbrunnens haben nur die alten Menschen.

Bernd Seydel