Mondhaus und Kosaken - Über Hans-Christian Kirsch alias Frederik Hetman

Mondhaus und Kosaken

Erfahrungen eines Lektors indianischer und russischer Märchen mit Hans-Christian Kirsch


Das aufregendste Märchen des Hans-Christian Kirsch ist Frederik Hetmann.

Doch eigentlich war die Zusammenarbeit mit ihm ganz unspektakulär. Es gab keine Skandale, kein Wutgebrüll über laxe Lektoren oder autoritäre Autoren. Vertragsverhandlungen verliefen mit ihm ruhig und selbstsicher. Sie waren getragen von gegenseitigem Respekt und der Einsicht, daß darin Geldfragen zu regeln seien, die nun mal in unsere Welt auch hineingehören. Nachdem wechselseitig die Willensfragen geklärt waren, durften sie als Selbstverständlichkeit der Buchhaltung übergeben werden, auf daß das ins Leben zu befördernde Buch nunmehr alleiniger Mittelpunkt sei.

Als Jugendbuchlektor und Pressesprecher des anthroposophisch geprägten Verlags Freies Geistesleben in Stuttgart war es für mich durchaus etwas Besonderes, mit Hans-Christian Kirsch zusammenzuarbeiten. Der Kontakt zu ihm war um 1988 – wenn ich es recht erinnere – über den damaligen Geschäftsführer Dr. Wolfgang Niehaus geknüpft worden. Wir wünschten uns eine Ausgabe mit Märchen oder Geschichten von Frederik Hetmann.

Damals schon gab es eine deutliche Tendenz im Verlag Freies Geistesleben, auch Autoren zu finden, die nicht aus der anthroposophischen Szene stammen. Wir versprachen uns davon eine weitere Öffnung in den allgemeinen Buchhandel hinein. Nicht daß wir mit „unseren“ Autoren unzufrieden gewesen wären. Deren Bücher lagen uns nach wie vor am Herzen. Außerdem verkauften sie sich durchaus gut – und zwar sowohl innerhalb der Waldorfbewegung als auch darüber hinaus. Wir wollten vielmehr die Freiheit und das grundsätzlich Undogmatische unserer Verlagsphilosophie erproben.

Was war das Verbindende zu Frederik Hetmann? „Die Indianer haben gewußt und wissen, daß diese Erde, die Welt, der Kosmos, die Natur oder die Existenzgrundlage des Wesens Mensch gewissermaßen ein wohl austariertes Mobile sind, in dem alle Formen des Seins ihre Berechtigung, ja, eine geistige, als Teil zum Ganzen beitragende Energie haben.“ Dieses Bekenntnis aus dem Vorwort zu „Mondhaus und Sonnenschloß – Märchen und Mythen der nordamerikanischen Indianer“ (1989) werteten wir gerne auch als Erkenntnis. Damit waren die Geschichten dieses Buchs nicht bloß Unterhaltung – was ja auch ehrenwert gewesen wäre -, sondern ein Stück Bewußtseinsarbeit und Erkenntnisstreben.

Gab es eigentlich Vorbehalte bei Hans-Christian Kirsch gegenüber den Anthroposophen und der Anthroposophie? Ich kann mich nicht an nur einen Augenblick erinnern, in dem solche spürbar gewesen wären. Ganz abgesehen davon: Warum sollte er sie auch haben? Er wollte, genauso wie wir, ein schönes und erfolgreiches Buch machen – er als Übersetzer und Autor, ich als Lektor und wir als Verlag.

Zur Vorbereitung des Manuskripts besuchte ich ihn in seinem Haus in Nomborn. Ich wurde willkommen geheißen wie ein guter Freund: herzlich und offen. Hans-Christian Kirsch und seine Frau ließen mich für die kurze Besuchszeit teilhaben an ihrem arbeitsamen Leben. Muntere Gespräche quer durch alle Kulturen und die Weltgeschichte wechselten sich ab mit heiteren oder besinnlichen Erzählungen aus dem eigenen Leben. Natürlich konnte ich es mir nicht verkneifen, die reichlichen Buchbestände genau in Augenschein zu nehmen, was aber gerne geduldet wurde.

Wenn es ans Manuskript ging, war Hans-Christian Kirsch konzentriert bei der Sache. Als Lektor war die Zusammenarbeit mit ihm beglückend. Er wußte genau, was er sprachlich wollte; aber wenn ich eine wirkliche Ungereimtheit entdeckte, änderte er rasch und bereitwillig. Es gab kein eitles Ringen um Details, sondern immer den Blick aufs Ganze, dem sich die Einzelheiten zuzuordnen hatten.

Unglücklich war er nur mit der ersten Fassung des Umschlagentwurfs von „Mondhaus und Sonnenschloߓ. Er hatte sich mit den zweifarbigen Linolschnitten von Uta Böttcher im Innenteil zwar arrangieren können, aber auf dem Schutzumschlag mochte er sie nicht. Mit einer Spontanentscheidung zwischen ihm und Wolfgang Niehaus wurde dann das Problem aus der Welt geschafft. Hans-Christian Kirsch war mit dem Doppelkopfadler auf kräftig rotem Grund und der klaren Schriftanordnung zufrieden – und wir im Verlag hatten auch bald eingesehen, daß es eine gute Entscheidung war.

Als Pressesprecher oblag mir auch die Zuarbeit für die Medien. Mit gehörig viel Entschlossenheit wollten wir das Buch pressewirksam begleiten. Also sollte eine Pressemappe mit einem Interview mit Frederik Hetmann entstehen. Um alle diese Aktivitäten zu besprechen und zu koordinieren, war ich wieder nach Nomborn gefahren. Zum Interview setzten wir uns bei herrlichem Sonnenschein in den Garten. Ich legte mein kleines Tonbandgerät auf den Tisch und begann mit meinen Fragen. Frederik Hetmann antwortete ruhig und professionell. Er selbst wollte ein gutes Interview geben, das ich dann ohne große Änderungsbemühungen verwenden konnte. Wir arbeiteten etwa vierzig Minuten, dann fuhr ich frohen Mutes und mit meinem Gesprächsschatz in der Tasche zurück nach Stuttgart.

Leider aber hatte wegen eines technischen Defekts mein Gerät nicht eine einzige Sekunde brauchbaren Materials gespeichert. Am liebsten hätte ich den Kasten vor Ärger zertrümmert. Dann aber setzte ich mich sofort am nächsten Morgen und mit dem strikten Verbot, gestört zu werden, hin, um aufzuschreiben, was mir noch erinnerbar war. Wie merkwürdig: Kaum daß ich mir unsere Gesprächssituation vergegenwärtigte, stiegen seine klaren Worte wieder empor ins Bewußtsein. Ich sah ihn vor mir sitzen, ich hörte ihn sprechen und brauchte nur nachzuschreiben. Mit Erleichterung nahm ich sein Ok entgegen, nachdem er das Quasi-Interview gelesen hatte.

„Mondhaus und Sonnenschloߓ wurde gut verkauft. Also reifte die Lust auf ein nächstes Projekt. 1967 hatte Frederik Hetmann die „Rußland-Saga“ im Herder-Verlag herausgegeben, die inzwischen nicht mehr lieferbar war. Gerne wollten sie wir neu auflegen.

Um den Buchpreis marktgerecht zu halten, mußten wir den Text kürzen. Hans-Christian Kirsch verstand unser Ansinnen und auch, daß wir die Illustrationen von Günther Stiller nicht mit übernahmen. Wir sahen in diesem Buch „Ein Lesebuch zur Geschichte Rußlands“. Es erzählt von drei geschichtlich wirksamen Kräften: „Bojaren, Zaren und Kosaken“, wie dann auch der Titel lautete. Um das Chronologische der Geschichten, Märchen und historischen Portraits zu betonen, wurden auf den Seiten drei Zeilen hohe Jahreszahlen eingefügt. So ergab sich neben den Kapitelüberschriften ein eigener Leserhythmus.

Das Rußland-Buch erschien 1990. Es fügte sich ein in jenen Umbruch, der die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten ermöglichte und die Öffnung nach Osten anstieß. Darauf nimmt das Vorwort Bezug. „Wissen um Geschichte, Einsicht in die Eigenart von Völkern auf dem Weg über ihre Märchen scheint mir immer noch ein zwar unspektakuläres, aber wirksames Mittel, Vorurteilen, die zu Fanatismus und Völkermord führen können, durch Verständnis und Freundlichkeit erzeugende Einsichten in die Phantasiewelt und Eigenart unbeachteter und in ihrer kulturellen Tradition wodurch auch immer bedrohter Volksgruppen entgegenzuwirken. Wo Menschen voneinander wissen – und das heißt auch, die Geschichte und Geschichten des anderen genau zu kennen und als Tradition zu achten, wo Menschen begreifen, warum dem anderen dies und jenes auch an immateriellen Gütern so unverzichtbar erscheint, ist ein erster Schritt gegen die Macht derer getan, die neuen Chauvinismus predigen.“

Mich selbst hat es Ende 1990 aus dem Verlag heraus in die Neuen Bundesländer gelockt. Seitdem ist beim Verlag Freies Geistesleben kein Buch mehr von Frederik Hetmann erschienen. Das ist aber nicht ungewöhnlich: Die Verbundenheit zwischen Lektor und Autor ist nicht übertragbar auf andere. Entweder fühlt man sich wechselseitig in seinen Anliegen und Absichten verstanden, dann entstehen neue Bücher – oder es ist nicht so, dann geht jeder wieder andere Wege.

Mit Akribie habe ich weiterhin das literarische Schaffen von Hans-Christian Kirsch und Frederik Hetmann verfolgt. Auch wenn ich seine Manuskripte nicht mehr lektoriere, lesen mag ich seine Bücher immer noch gerne.




Hans-Christian Kirsch starb am 1.Juni 2006. Mehr zu ihm und seinem Werk findet sich hier .