Bankgeschichten - Oktober 1996

Bankgeschichten



Mit einer Glätte, die mir das Gruseln zwischen die Augen treibt, sitzt mir wieder jene Jungfrau vor dem Gesicht: Ob ich denn die Bilanz dabei hätte. Ob ich denn auch meine betriebswirtschaftliche Auswertung vorzeigen könne. Der Kontostand, ach der, ja der wäre nun gar nicht so, wie man – man – es sich wünschen würde. Ich betrachte sie mit unzärtlichem Sinn. Sie ist bestenfalls in den ersten zwanziger Jahren. Ein Vorrat an beruhigenden Sätzen ist bei ihr noch nicht angelegt. Darum erneut das Beharren auf der Bilanz. Ob denn mein Steuerberater nicht alles fertiggemacht habe? Ja, der habe, meine ich. Ich müsse einsehen, daß ich mit dem Geld anderer Leute umgehen würde … Ach so, meine ich. Wieder sie: Da hätte ich eine große Verantwortung. Und du, unholde Jungfrau, bist also so etwas wie die Tugendwächterin des Börsenplatzes? Weißt um die gewichtige Geltung des Geldes? Ich lege ihr eine Zahlenmenge vor, die verraten soll, wo des letzten Monats Tücke und Gelegenheit lag. Ich verweise auf das grell Markierte. Hier sehe sie, so ich, wie wir uns bemühten, wie die Frucht des Schuftens sich auszahle in blanker Mark. Ihr Blick irrt mir zu flirrig auf dem Blatt. Das andere Zahlenwerk, wieder ich, sei das ihr schon Bekannte. Da, die Vorjahresumsätze, sie möge doch vergleichen. Sie vergleicht meine Hoffnungsrede mit dem, was sie versteht. Es sieht nicht gut aus für mich. Diese Kopie, ich rette mich ins Angebot, die Kopie sei selbstverständlich für sie. Selbstverständlich nimmt sie diese an ihre Seite. Nun die Bilanz. Sie fragt nach den Passiva. Nein, passiv wäre bei mir nichts. Im Gegenteil. Ich erheb mein Haupt vor dem ihren und blicke streng. Sie stockt vorsichtshalber und lächelt. „Das wissen wir. Sonst hätten wir schon viel eher unsere Konsequenzen ziehen müssen.“ Das Wort Überschuldung, das sie nun sehr gekonnt durch die Zähne zischt, jagt mir’s wie Fischschuppen im Wind über den Rücken. Schuld. Meine Schuld. Meine Überschuld. Das sagt sie so ziehend, zerrend. „Wir haben ihren Fall sehr eingehend bei uns besprochen.“ Meine Überschuldung. Die lasse sich nicht wegdiskutieren. Ich wisse doch, daß sie als Bankinstitut da gar nichts tun könnten. Das ist ihre Entscheidung, sagt sie mir. Sie kennen doch ihre Zahlen viel genauer als ich, so sie. Sie blättert etwas unsicher in meinen Papieren. Dann nimmt sie diese unter ihre Fittiche, bedeckt alles mit einem Kopfnicken und schaut mich in dieser hündisch-überlegenen Art an, die mir durchs Mark fährt. Schuld, schreit es mir entgegen, große Schuld, Überschuld, Überschulden, Überschuldung. Die Hundeaugen klirren kalt aus dem Jugendgesicht. Wo hat die das her, dieses Blicken? Lernt man das auf der Streckbank der Banklehre?

Da steht sie schon vor mir und reicht ihre Hand zu mir rüber: Gruß, Hundeauge, Umdrehen: Ja, grinselt sie, ich begleite sie noch zur Tür. Das Jungmädel trottet hinter mir, der ich eilenden Schrittes voller Unternehmerschaftskraft dem Ausgang entgegenstrebe. Nochmals der Gruß, der fragende Blick in die Zukunft. Bloß raus.

Dreimal tief ausatmen, bringt die Entspannung, sage ich mir nachdrücklich. Also Atemanhalten, drei federnde Schritte. Halt. Die Luft entbläst meinem Gesicht. Aber die Erleichterung zieht nicht ein, es ist alles wie gerade zuvor. Da saß dieses Fräulein aus der Wunderwelt des Geldes, gedankengedrillt bis zum Erbrechen. Im Café getroffen, wäre sie zwar keine Liebe, aber eine Plauderei wert gewesen. Am Beratungstisch verwandelt sie sich in lebendigen Stein. Warum habe ich kein Recht auf einen gerechten Prozeß? Die haben mir doch alles gegeben. Geschenkt ist geschenkt, wiederholen ist gestohlen. Mit dem Unterschied von geben und schenken, geben und wiederholen. Und bist du nicht willig. Dann. Brauch. Ich. Gewalt. Mit dem zarten Gesichtchen so viel Ärger machen. Mit dem Jungfrauenantlitz. Dem Unschuldslammblick. Die trübt kein Wässerchen. Die betrübt bestenfalls. Ich entsinne mich wieder, wie sie das Wort Überschuldung sagt. Dann Eigenkapital. Und: Sie sehen doch selbst. Wir können da gar nicht mehr helfen. Sie haben doch unsere monatelange Geduld bemerkt. Jetzt sind uns leider die Hände gebunden. Da dürfen wir gar nicht anders handeln. Die Gesetze. Wir müssen uns doch an die Gesetze halten. Ich werde nicht ihretwegen meine Stelle gefährden. Das müssen sie verstehen. Uns ist diese Entscheidung nicht leicht gefallen. Ich würde ihnen auch lieber etwas Besseres sagen. Sie hatten es doch selbst in der Hand. Aber die Zinsen, sage ich, immer diese hohen Zinsen. Sie haben doch keine Sicherheiten. Risiko kostet Geld, das wissen sie als Kaufmann so gut wie ich auch. Wir bekommen leider alle nichts geschenkt. Wir haben eine Verantwortung. Unsere Kunden geben uns ihr Geld, damit wir daran unsere Verantwortung auslassen können. Es hätte ja auch ihr Geld sein können? Wenn Sie nur Erfolg gehabt hätten. Dann hätten wir ihr Geld angelegt. Sie wollen doch auch nicht plötzlich alles verlieren, oder? Das Hundeauge schaut schräg an mich heran und verliert sich in der Schalterhalle. Ich habe verstanden.

Ich bin vielleicht vier oder fünf Schritte gegangen, gefangen in der Bilderwelt des gerade Erlebten. Diese Lumpen, stoße ich heraus. Das soll Erleichterung verschaffen. Aber es erleichtert mich wieder nicht. Also weiter.

Ich erwecke eine Hoffnung zum Leben: Die Hundsäugige wird nicht der Scharfrichter sein. Sie will mich herausfordern, meinen Ehrgeiz anstacheln. Sie will, daß ich Erfolg habe, meinen Hoffnungserfolg. Die kleinen Schritte in die richtige Richtung. Sie will nur, daß ich richtig arbeite. Ich weiß, sie will. Nur mein Bestes. Daß alles gelingt. Ich muß nur tun, was ich ihr erzähle, was ich selbst weiß als das Richtige, als das Zukunfttragende. Die Hoffnung fährt in meine Beine. In meine Unternehmerbeine, jawohl. Ich trete den Boden der Wirklichkeit. In mir sammeln sich die Tatkräfte der kommenden Zeit. Und das Fräulein ist der Wachhund des Unternehmers, der Blindenhund, der Kampfhund. Das Jungfraulein wächst zu brünhildener Größe. Sie klappt ihre Fittiche auf und birgt mich darunter. Ich, der kleine Unternehmer, wachse an ihrer Mutterbrust zu stattlicher Größe. Und dann zeige ich es allen. Ich, der am Busen der Bank genährt wurde. Mit Transaktionen und Dividenden habe ich gespielt, mit Aktien geflirtet, auf fallende Kurse gesetzt und gewonnen.

Mein Tritt stockt an einer Stufe. Ich falle aus dem Wunderhimmel in die Welt zurück. Der Busen ist nichts weiter als ein alter Papierkorb, an dem ich traumversonnen gerührt habe.

Meint die das ernst? Wir haben sie sehr lange unterstützt. Aber wir brauchen auch ihre Mithilfe. Nein, in diesem Stadium können wir gar nichts mehr tun.

Mein Blick knickt weg nach innen. In die Feuersglut der zerschundenen Hoffnung. Jetzt ist das doch ganz sinnlos; die haben doch immer mitgemacht, haben mich gestützt, gefördert. Dann ist doch alles verloren. Wir können da gar nichts machen, sagt sie wieder. Warum? Natürlich könnt ihr. Ihr konntet doch bis jetzt auch? Also warum nicht weiter? Wir können da gar nichts machen, sagt sie erneut. Immer diesen einen Satz. Und ich? Was kann ich machen? Der das Hundeauge ausstechen. Die Jungmädelbrust zerkratzen. Das krausige Haar zerzerren. Dann den Kassierer vertrimmen. Ihren Herrn Vorgesetzten vernichten. Ich sehe bereits den Kleinlastwagen, wie er sich zu später Nachtstunde mit hoher Geschwindigkeit rückwärtsfahrend der neuen Bankfiliale annähert. Ein hartes Rucken zum Stand zentimetergenau vor einem großen Seitenfenster. Die schlappe Plane bläht sich, und mit der Geschwindigkeit des ungebremsten Körpers fährt ein Schwerstgegenstand auf halber Schiene heraus und durchbricht, Glas berstend, die Fassade. Der Kleinlastwagen dreht mit quietschenden Reifen ab. Nur Minuten später bricht eine Flammenlohe, ein Steingeisir auf, der erst die Wand aufbeult, dann windet sich diese zu Boden und zerrt im Fallen die halbe Fassade zu Boden. Ein weiteres Flammenschwert stößt in den Nachthimmel. Das Dach knirscht gräßlich, und wie rote Mordvögel schmettern die Dachziegel todeswund zur Erde. „Vom Ziegel erschlagen. Einmal in 1000 Jahren“ dichtet die Zeitung tags darauf.

Ich wische den Unsinn vor den Augen weg. Ein Blick zurück in Sorge zeigt die Unversehrtheit des Gebäudes. Alles in Ordnung? Im Abdrehen stürze ich zur Sicherheit aber noch das Bankfräulein aus dem Fenster.




Entstanden für einen Schreibwettbewerb des DGB Thüringen 1996.