Klangtexte und Sprechmusiken

Zungenakrobatik total

Der Kunstsprecher Bernd Seydel mit dadaistischen Lauttexten und anderem Ur- oder Un-Sinn

Es schnarrt, trompetet, raunzt und schwirrt, wenn der Kunstsprecher Bernd Seydel auf der Bühne Lauttexte der Dadaisten vorträgt. Den Zuhörern verschlägt es den Atem. Den Mann da vorne bringt es nicht aus dem Konzept. Bis zum bizarren Ende steigert er die Laute – und braucht dafür doch nichts anderes als seinen Mund.

Als in Zürich 1916 die Dadaisten zum ersten Mal Aufsehen mit Lauttexten erregten, tobten die Bürger. Sie fühlten sich verlacht und provoziert. Also ging man zu den Dadaisten, um sich einmal richtig aufzuregen. Heute spielt die Provokation kaum eine Rolle mehr. Aber was geblieben ist, sind aufregende Texte, die allerdings zum Leben erweckt werden müssen. Bernd Seydel nimmt sie so unbekümmert in den Mund, daß man den ganzen Abend kaum aus dem Staunen und Lachen herauskommt.

Klangtexte und Sprechmusiken

In seinem abendfüllenden Programm “Lauttexte und Sprechmusiken” stehen zwei Dichter im Mittelpunkt. Otto Nebel kam 1924 auf die erstaunliche Idee, statt des ganzen Alphabets bloß neun Buchstaben zu verwenden. “Unfeig – eine Neun-Runen-Fuge” heißt das Opus. In seinem Kernstück werden fünfzig Irre vorgeführt, die alle leibhaftig aus den Wortklängen auftauchen.

Kurt Schwitters aus Hannover schrieb die bislang einzige Sonate für einen Sprecher. Die “Ursonate”. In vier Sätzen entfalten sich aberwitzige Sprechklänge, sanftes Säuseln und hechelnde Rhythmen. Man braucht schon einen so langen Atem wie der Mundwerker Bernd Seydel, um das gefahrlos durchzustehen. Die Zuhörer haben es genossen – und sich erstaunt die verspannten Wangen gerieben.

Otto Nebel

Otto Nebel (1892-1973) ist gebürtiger Berliner. Nach Abschluß seiner Ausbildung als Hochbaufachmann und danach als Schauspieler wurde er 1914 zum Kriegsdienst eingezogen. In englischer Gefangenschaft schrieb er 1919 seine erste umfassende Dichtung “Zuginsfeld”. Sie entlarvt den Ungeist des preußischen Militärs anhand seiner verqueren Sprache. Zurück in Berlin findet Otto Nebel Kontakt zum Sturm-Kreis um Herwarth Walden. Bei ihm versammelten sich alle führenden Künstler diese Zeit. Von 1924 an erschien Nebels Dichtung “Unfeig – Eine Neun-Runen-Fuge”. Sie ist aus nur neun Buchstaben (uei nfg rtz) gedichtet. In 1500 Verszeilen findet sich allerschönster Sinn und Übersinn. Otto Nebel wettert im “Unfeig” gegen alle ungerechten Zwänge und den Irrsinn, für den er vor allem Regierungen und Zeitungen verantwortlich macht. Als abschreckendes Beispiel führt er dem Leser und Hörer 50 Irre vor: Ein jeder mit neun Buchstaben. Der “Unfeig” ist eine kunstvoll gebaute Sprachsatire, höchst witzig und voller Gedankentiefe.

Kurt Schwitters

Der 1887 in Hannover geborene Kurt Schwitters, ein guter Freund von Otto Nebel, erfand, änderte und erweiterte zwischen 1922 und 1932 seine “Sonate in Urlauten”, jene bisher unübertroffene Laut-Sprech-Musik in vier Sätzen. Streng fügt sie sich der klassischen Sonatenform. Im letzten Satz, dem Presto, gibt es darum folgerichtig eine frei zu improvisierende Kadenz. Das 23-Minutenstück ist eine virtuose Komposition für einen Mund, der sich vor schwierigen Zungenüberschlägen nicht scheut. Getragene Passagen wechseln sich ab mit solchen in atemberaubendem Tempo, urwüchsige Sprachkomik klappt um in heiter-dramatische Zuspitzung.
Schwitters mußte, wie Otto Nebel auch, nach 1933 Deutschland verlassen. Sein bildnerisches Lebenswerk, der Merzbau in Hannover, wurde durch Bomben zerstört. Er starb 1948 verarmt in England. Heute ist er weltberühmt.